Es ist wie Ende 2020, aber umgekehrt: Deutschland muss heute wie damals unter großem Druck seine Impfinfrastruktur ausbauen, aber diesmal werden nicht Impfzentren gebaut, sondern Lager für Überdosen. Deutschland hat zu viel Impfstoff und weiß nicht wohin damit.
Noch vor wenigen Wochen schien die Situation undenkbar. Für viele Menschen schien ein Impftermin so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. Jetzt schreiben die Impfstellen massenhaft freie Termine aus und die Kühlschränke der Arztpraxen quellen über mit unbenutzten Flaschen. Dies gilt nicht nur für die weniger beliebten Impfstoffe von AstraZeneca und Johnson & Johnson, sondern auch für die mRNA-Shots von BioNTech und Moderna.
Einige Bundesländer haben angeblich bereits die Bundesregierung aufgefordert, den Versand von Impfstoffen einzustellen, weil ihre Lager voll sind. Bei vielen Durchstechflaschen mit AstraZeneca besteht die Gefahr, dass das Verfallsdatum überschritten wird. Das Bundeskabinett hat deshalb beschlossen, Millionen von Dosen an andere Länder zu verschenken.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat am Montag ein fünfseitiges Dokument an die Gesundheitsbehörden der Bundesländer geschickt. „Da die Verfügbarkeit von Impfstoffen die Nachfrage jetzt deutlich übersteigt, werden die verfügbaren Impfstoffe bis August nicht mehr vollständig an Bundesstaaten, Kliniken und Arbeitsärzte geliefert“, heißt es darin. Mit anderen Worten, der Bund, der für den Einkauf des Impfstoffs zuständig ist, kann die Dosen nicht mehr loswerden.
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurden am vergangenen Sonntag 106 Millionen Dosen verabreicht, aber bis Dienstag nur 90 Millionen verbraucht. Da die Impfraten sinken, steigen die Lieferungen. Spahn erwartet im dritten Quartal mehr als 100 Millionen neue Dosen.
Das Bundesgesundheitsministerium überdenkt daher die Angelegenheit. Ab Mitte August werden die Impfstoffe nicht mehr nach einer bevölkerungsbezogenen Rezeptur an die Bundesstaaten verteilt, sondern nach Bedarf geliefert.
Pfizer/BioNTech wird gerettet
Inzwischen muss Spahn größere Lagermöglichkeiten für die sensiblen mRNA-Impfstoffe organisieren, da die BioNTech- und Moderna-Impfstoffe weiterhin für einen möglichen Einsatz in Deutschland vorgehalten werden sollen. „Es gibt derzeit keine Pläne, mRNA-Impfstoffe zu verschenken“, teilte Spahns Ministerium mit.
Im Herbst werden Booster-Shots eingeführt, und die ganz Alten und Menschen mit besonderen Gesundheitsbedürfnissen erhalten ihre dritte Impfung. Auch Jugendliche und Kinder könnten stärker nachgefragt werden. BioNTech wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres für Kinder unter 12 Jahren zugelassen.
Das Problem: Der mRNA-Impfstoff muss langfristig auf minus 70 Grad Celsius gekühlt werden, und das erfordert spezielle Geräte. Die Bundesländer glauben nicht, das selbst organisieren zu können, daher werden die Impfstoffe nur noch in einem Zentrallager der Bundesbehörden gelagert. Dafür habe das Ministerium nach eigenen Angaben ultrakalte Kühlung „von verschiedenen Firmen“ erhalten. Die Regierung gibt nicht bekannt, wie viele Dosen zentral gespeichert werden müssen. Im August wird es ein „kleiner Überschuss“ sein. Fest steht nur, dass die Bundesregierung allein im dritten Quartal mit mehr als 70 Millionen Dosen mRNA-Impfstoffe rechnet.
Spendendosen komplizierter als erwartet
Bei den Impfstoffen von AstraZenaca und Johnson & Johnson ist die Bundesregierung großzügiger. Anfang Juli beschloss sie, bis Ende des Jahres mindestens 30 Millionen Dosen dieser Impfstoffe an andere Länder zu spenden. Davon sollten insbesondere Entwicklungsländer profitieren.
Mindestens 80 Prozent der Dosen will die Bundesregierung an COVAX, die internationale Impfinitiative, spenden. Ein geringerer Anteil von bis zu 20 Prozent soll über bilaterale Abkommen – „insbesondere an die Westbalkanstaaten, die Östliche Partnerschaft“ – darunter Ukraine, Moldawien, Weißrussland, Armenien und Aserbaidschan – „und Namibia“ gespendet werden.
Details und konkrete Beträge werden derzeit verhandelt. Fest steht nur, dass ab August alle Lieferungen von AstraZeneca an COVAX und in andere Länder gehen.
Die Zeit drängt, denn laut einer Studie des SPIEGEL in den Bundesländern könnten in den kommenden Tagen tausende Dosen AstraZeneca in den Müll geworfen werden. Bis Ende Juli sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums des südlichen Baden-Württembergs „kurzfristig 4.000 Impfungen in Impfzentren betroffen“. In Bayern ist „ein vierstelliger Betrag“ gefährdet und im nordwestlichen Bundesland Schleswig-Holstein werden bis zu 2.480 AstraZeneca-Dosen mit Ablauf am 31. Juli verworfen. Im südwestlichen Saarland wären zu diesem Zeitpunkt 6.000 Dosen betroffen.
In Mittelhessen sind noch ca. 200.000 Impfdosen für Impfstellen vorrätig. Sie laufen frühestens im Oktober aus. Dennoch heißt es im Innenministerium: „Es ist absehbar, dass ein Großteil des Impfstoffs der Firma AstraZeneca in den hessischen Impfzentren nicht mehr zum Einsatz kommt.“
Die Spende des überschüssigen Impfstoffs ist aus rechtlicher Sicht nicht einfach. Wie das Bundesgesundheitsministerium erklärt, können Staaten und Arztpraxen nicht eigenständig Impfdosen spenden, weil „dies ausschließlich dem Bund vorbehalten ist“.
Die Abteilung Spahn organisiert nun eine neue Lieferkette – die Bundesländer können ihre Zusatzdosen an den Bund spenden, allerdings mit einer Bedingung: Die Fläschchen müssen noch mindestens zwei Monate haltbar sein.
Deutschland kann auch anderen Ländern Millionen von BioNTech-Dosen geben. Derzeit wird untersucht, ob mit dem gleichen Impfstoff Auffrischimpfungen gegen die Delta-Variante durchgeführt werden sollen oder ob speziell angepasste und hergestellte Impfstoffe benötigt werden.