W.Im Nordosten Sibiriens liegt in der Hafenstadt Pewek ein Schiff in den Farben der russischen Nationalflagge vor Anker. Die Akademik Lomonossow, ein eckiges Riesenboot, das nach einem russischen Naturforscher benannt wurde, ist derzeit das umstrittenste Schiff der Welt. Umweltschützer verkleinern es als „schwimmendes Tschernobyl“ und „nukleares Titanic“. Für die Internationale Atomenergiebehörde der Vereinten Nationen (IAEO) Auf der anderen Seite läutet die Lomonossow-Akademie eine neue Ära ein. Weil das Schiff eine Art schwimmendes Kernkraftwerk ist, das die lokale Bevölkerung und Wirtschaft im abgelegenen Pewek mit Strom versorgt. Nach Angaben der IAEO sind die Rumpfreaktoren weltweit die ersten ihrer Art, die bereits Strom liefern.
Marcus Theurer
Herausgeber Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Experten sprechen von „Small Modular Reactors“ (SMR). Weltweit gibt es derzeit rund 70 Projekte zur Entwicklung solcher kleinen Kernreaktoren. Die meisten von ihnen sollten natürlich nicht zu Kraftwerken wie dem russischen Atomschiff werden, sondern an Land gebaut werden. Das Besondere an ihnen ist, dass sie nur einen Bruchteil der Leistung herkömmlicher Großkraftwerke haben, aber sicherer und viel billiger sein müssen.
Vorgefertigte Kernkraftwerke ab Werk
Die Internationale Atomenergiebehörde definiert SMR-Systeme als Kernreaktoren mit einer maximalen Leistung von 300 Megawatt. Im Vergleich dazu erreichen einzelne Reaktoren in konventionellen Großkraftwerken häufig 1.300 Megawatt und mehr. Befürworter erwarten, dass SMR-Systeme in Zukunft in großer Anzahl und praktisch in Serie gebaut werden, was den geringeren Wirkungsgrad der einzelnen Reaktoren ausgleichen würde. Die Freunde kleiner Kraftwerke glauben, dass die neue Technologie zu einer globalen Renaissance der Atomenergie bei der Stromerzeugung – und kann einen wichtigen Beitrag zu einer klimafreundlichen Energieversorgung leisten.
„Das Interesse an SMR-Technologie wächst weltweit“, sagte der IAEO-Nuklearexperte Stefano Monti. Dies gilt nicht zuletzt für das Weiße Haus in Washington, wo ein neuer Präsident regiert. Der 78-jährige Joe Biden war früher die neue Hoffnung für den internationalen Klimaschutz.
An seinem ersten Tag im Amt befahl Biden den Vereinigten Staaten, zum Pariser Abkommen zurückzukehren, das sein Vorgänger Donald hatte Trumpf hatte aufgegeben. Die Erteilung neuer Bohrgenehmigungen für die Ölindustrie wird eingeschränkt. Schließlich muss die größte Volkswirtschaft der Welt bis 2050 klimaneutral sein – das hat Biden im Wahlkampf versprochen. Was für einige deutsche Klimaschutzaktivisten jedoch durchaus beunruhigend sein mag: Der neue Regierungschef verlässt sich bei der angekündigten radikalen Umstrukturierung des Energiesystems nicht nur auf Windkraftanlagen und Photovoltaikanlagen. Biden möchte auch die Möglichkeiten neuer Arten von Kernkraftwerken wie SMR-Anlagen abschätzen.
Auch der britische Premierminister Boris Johnson ist ein Fan der Kernenergie. In Großbritannien arbeitet ein von der Rolls-Royce-Industriegruppe geführtes Konsortium mit staatlicher Finanzierung an SMR-Technologie. Bis zu 16 solcher Anlagen werden auf der Insel gebaut und ersetzen ältere konventionelle Kernkraftwerke. In Kanada stehen auch SMR-Reaktoren auf der energiepolitischen Agenda. Argentinien und China sind viel weiter vorne: Die ersten kleinen Kernkraftwerke befinden sich dort bereits im Bau und können innerhalb von drei Jahren in Betrieb genommen werden.